20.11.2018 -
Wissen Sie, was es wirklich bedeutet, Risiken einzugehen? Ein gedanklicher Besuch mit Nassim Nicholas Taleb im Casino wird Ihnen die Augen öffnen.
Erwägen Sie folgendes Gedankenexperiment. Erster Fall: Hundert Personen gehen in ein Casino, um über eine bestimmte Zeitdauer einen bestimmten Geldbetrag zu setzen, Gin Tonic gibt es gratis dazu. Einige verlieren, einige gewinnen, und wir können am Ende des Tages ableiten, was für einen „Schnitt“ sie gemacht haben, also die Einnahmen ausrechnen, indem wir einfach das Geld in den Portemonnaies der Personen nachzählen, die das Casino verlassen. Wir können so auch ermitteln, ob das Casino die Gewinnchancen ordnungsgemäß ansetzt. Nun nehmen Sie an, Spieler Nummer 28 geht pleite. Wirkt sich das auf Spieler Nummer 29 aus? Nein.
Aus Ihrer Stichprobe können Sie sicher ableiten, dass ungefähr ein Prozent der Spieler pleitegeht. Und wenn Sie immer weiterspielen, dann ist absehbar, dass dasselbe Verhältnis – ein Prozent der Spieler, die ihr ganzes Geld verlieren – im selben Zeitfenster bestehen bleibt.
Vergleichen wir das nun mit dem zweiten Fall in dem Gedankenexperiment. Eine Person, Ihr Vetter Theodoros Ibn Warqa, geht an einhundert aufeinanderfolgenden Tagen ins Casino, er fängt mit einem bestimmten Geldbetrag an. Am Tag 28 ist Ihr Vetter Theodoros Ibn Warqa pleite. Wird es einen Tag 29 geben? Nein. Er ist an einem Uncle Point angekommen – das Spiel ist aus. Egal wie gut oder pfiffig Ihr Vetter Theodoros Ibn Warqa ist – Sie können ganz sicher davon ausgehen, dass er mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit irgendwann pleitegeht.
Die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Gruppe von Personen lässt sich auf Vetter Theodoros Ibn Warqa nicht übertragen. Wir bezeichnen den ersten Fall als Ensemble-Wahrscheinlichkeit und den zweiten als Zeit-Wahrscheinlichkeit (denn beim ersten Fall geht es um eine Gruppe von Personen, beim zweiten nur um eine einzige Person in einem bestimmten Zeitfenster). Wenn Sie nun Texte von Finanzprofessoren, Finanzgurus oder auch die Investmentempfehlungen Ihrer örtlichen Bank lesen, die auf langfristigen Marktrenditen beruhen, dann seien Sie vorsichtig.
Selbst wenn ihre Vorhersagen korrekt wären (was sie nicht sind), kann kein Einzelner dieselben Renditen wie der Markt einstreichen, es sei denn, er hat unendlich große Taschen und keine Uncle Points. Hier werden nämlich Ensemble-Wahrscheinlichkeit und Zeit-Wahrscheinlichkeit vermischt. Wenn der Investor irgendwann seine Belastung aufgrund von Verlusten reduzieren muss, oder weil er in Rente geht oder sich scheiden lässt, um die Frau seines Nachbarn zu heiraten, oder weil er nach einem Krankenhausaufenthalt wegen einer Blinddarmentzündung plötzlich heroinsüchtig wird, oder weil er seine Einstellung zum Leben grundlegend verändert hat – jedenfalls werden dann seine Einnahmen von denen des Markts getrennt werden, und Punkt.
Jeder, der mehr als ein paar wenige Jahre im Risikogeschäft überlebt hat, hat sich eine Version unseres mittlerweile vertrauten Prinzips angeeignet: „Um Erfolg zu haben, müssen Sie erst einmal überleben.“ Meine Version lautet: „Überquere nie einen Fluss, der im Durchschnitt nur einen Meter tief ist.“ Ich habe mein ganzes Leben um die Tatsache herum organisiert, dass die Abfolge eine Rolle spielt und dass das Faktum, dass es Zusammenbrüche gibt, Kosten-Nutzen-Analysen untauglich macht.
Gekürzte Fassung eines Kapitels aus Nassim Nicholas Talebs neuem Buch „Skin in the Game“. Das vollständige Kapitel ist in der aktuellen Ausgabe des Flossbach von Storch Magazins „Position“ erschienen. Zum kostenlosen Abonnement der „Position“ geht es hier.