17.05.2017 -
Viele Anleger deuten die zuletzt geringen Schwankungen des US-Aktienindex S&P 500 als untrügliches Warnsignal. Steht der nächste große Rücksetzer an der Börse möglicherweise kurz bevor?
Bei der Geldanlage bevorzugen die Deutschen vermeintlich sichere Anlagen. Dafür sind sie nicht nur bereit, einen Großteil des sich ihnen bietenden Renditepotentials zu opfern. Um starke Kursschwankungen zu vermeiden, nehmen Anleger sogar planbare, reale Verluste in Kauf. Ein Stück weit erklärt sich die weit verbreitete Aktienphobie vermutlich auch durch die hohe Schwankungsbreite (die sogenannte Volatilität) des heimischen Aktienindex Dax. Sie steht im krassen Gegensatz zur deutschen Anlegermentalität.
Weil die Dax-Unternehmen insgesamt sehr stark von der Weltkonjunktur abhängen, sind die Kursschwankungen des Index im internationalen Vergleich vergleichsweise hoch. Dass der Dax vor allem in guten Börsenphasen dennoch gerne als Gradmesser für den persönlichen Anlageerfolg herangezogen wird, erscheint vor diesem Hintergrund beinahe grotesk.
Geradezu gemütlich geht es im Gegensatz dazu am amerikanischen Aktienmarkt zu: In den vergangenen zehn Monaten schwankte der S&P 500 gerade einmal an zwölf Handelstagen um mehr als ein Prozent. In diesem Jahr hat sich der Index bislang an nur drei Tagen um mehr als ein Prozent bewegt. Vor dem Hintergrund überrascht es denn auch nicht, dass der sogenannte „VIX“, der Volatilitätsindex der weltgrößten Optionsbörse in Chicago, jüngst mit 9,77 Punkten den vorläufig niedrigsten Tagesschlusskurs seit Ende 1993 markiert hat.
Skeptiker sagen, dass so geringe Kursschwankungen ein Warnsignal seien. Schon bald würden die Schwankungen wieder zunehmen. Und da stärkere Schwankungen tendenziell mit Abwärtsbewegungen einhergehen, interpretieren viele die kaum vorhandenen Schwankungen als „Ruhe vor dem Sturm“.
Wie belastbar ist eine solche „Analyse“? Könnte man vom jeweils aktuellen Niveau der Volatilität Prognosen hinsichtlich der künftigen Kursentwicklung von Aktien ableiten, wäre dies nicht nur einfach, sondern längst gängige Praxis. Tatsächlich aber ist sie als Indikator unseres Erachtens vollkommen ungeeignet. Erstens ist eine niedrige Volatilität eher die Regel denn die Ausnahme. Zweitens können Phasen niedriger Volatilität lange andauern, und drittens muss eine steigende Volatilität nicht einmal zwingend mit fallenden Aktienkursen einhergehen. Vor allem aber gibt es für die geringen Schwankungen des S&P 500 über die vergangenen Quartale unseres Erachtens einen guten Grund.
In Zeiten niedriger Zinsen ist die übliche Rotation von Aktien in Anleihen nur noch bedingt sinnvoll. Da Anleihen mehr zinslose Risiken als risikolosen Zins bieten, tendieren Anleger selbst bei zunehmender Skepsis inzwischen eher dazu in Aktien investiert zu bleiben. Sie wechseln stattdessen von zyklischen, also sehr konjunkturabhängigen Unternehmen in „defensive Qualitätstitel mit anleiheähnlichem Charakter“. Nimmt die Skepsis ab bzw. steigt die Zuversicht, wird der Aktienanteil wieder „zyklischer“ ausgerichtet. Die Rotation findet unseres Erachten somit innerhalb der Anlageklasse Aktien statt. Besonders ausgeprägt war dieses Verhalten im vergangenen Jahr zu beobachten. Wenn Anleger Aktien gegen Aktien tauschen, bedeutet dies bei einem relativ ausgewogenen Index wie dem S&P 500 im Ergebnis eine geringere Schwankung auf Indexebene. Dafür driftet die Entwicklung der einzelnen Sektoren und Aktien stärker auseinander. Aktienindizes mit einer eher zyklischen Ausrichtung wie zum Beispiel der Dax profitieren von diesem Phänomen weit weniger.
Zusammengefasst: die geringe Volatilität am US-Aktienmarkt ist nicht in erster Linie Ausdruck von Sorglosigkeit, wie oft fälschlicherweise behauptet. Sie ist unseres Erachtens auch Ergebnis eines sich ändernden Anlegerverhaltens in einem Umfeld niedriger Zinsen. Bedeutet das, dass uns künftig starke Ausschläge erspart bleiben? Mit Sicherheit nicht. Es ist beinahe absehbar, dass der nächste Rücksetzer durch jene Anleger ausgelöst wird, die „geringe Volatilität“ mit „geringem Risiko“ und „steigende Volatilität“ mit „steigendem Risiko“ übersetzen. Sie erhöhen aktuell ihre Aktienquote, weil ihnen die geringen Schwankungen ein vermeintlich geringeres Risiko vorgaukeln.